Meine „Tour de France“ mit der Moto Guzzi

Auf einer alten Festplatte habe ich einen Reisebericht von mir gefunden, den ich vor fast zwanzig Jahren für die Moto-Guzzi-Mailingliste geschrieben habe. Lässt sich auch heute noch gut lesen. Viel Spaß damit.         Volker

Ostern 2001:

Jean Claude, der Sohn unserer Nachbarn an der Ardèche, eröffnet uns, dass er Ende Juni heiraten werde, und dass er mich als seinen Trauzeugen auserkoren habe. Ein außerplanmäßiger Besuch unseres Weilers in Frankreich ist also vonnöten.

Sonntag, 24. Juni 2001 

Wir sind inzwischen zwei Wochen von unserer Indienreise zurück und besprechen die bevorstehende Hochzeit an der Ardèche. Sigi erklärt mir, dass sie nicht mitkommen könne, da sie seit Indien immer noch unter „Montezumas Rache“ leide, und dass sie sich einfach zu schwach für solch eine Reise fühle. Mit dem Ausdruck tiefsten Bedauerns lamentiere ich, dass ich nun allein diese Tour unternehmen müsse und gehe in Gedanken bereits meine Packliste für eine Motorradtour quer durch Frankreich durch; sozusagen eine „Tour de France“ mit der Guzzi. Die Fahrtroute über die schönsten Pässe der Schweiz und Frankreichs hatte ich in fünf Minuten kurz überschlagen und festgelegt, da ich als alter VW-Bus-Fahrer natürlich fast überall schon mit unserem Bulli gewesen bin. Nur wäre ich bei dieser Tour sozusagen in offizieller Mission unterwegs. Meine Freude auf die Fahrt mit der Guzzi steigt.

Dienstag 26. Juni 2001 

Die Guzzi steht gepackt in der Garage und wartet darauf gen Frankreich zu rollen. Das Packen war kein Problem, da in meinen beiden Hepko & Becker Ledertaschen mehr als genug Platz für meine Kleidung ist (für die Amtshandlung beim Bürgermeister kann ich ja nicht in der Ledermontur erscheinen). Auf dem Gepäckträger finden Zelt, Isomatte und Schlafsack Platz, und auf dem Beifahrersitz habe ich unser Hochzeitsgeschenk (ein tibetischer Teppich aus Indien) untergebracht. Im Tankrucksack sind die übliche Kleinteile wie Foto, Papiere, Geldbeutel etc. Alles natürlich relativ gut wasserdicht verpackt, da am Wochenende mit Gewittern zu rechnen ist.

Mittwoch, 27. Juni 2001 

Schraube bei meinem Hauptkunden in Frankfurt noch einige Netzwerkkarten in die Rechner, diskutiere am Nachmittag mit einer Werbeagentur über einen Internetauftritt und kann es eigentlich gar nicht mehr erwarten, endlich zusammenzupacken und nach Heidelberg zu fahren, um meine „Tour de France“ zu beginnen. Gegen 15.00 Uhr packe ich zusammen und düse ab. Zuhause angekommen, eine kurze Dusche, einen kleinen Snack eingeworfen, die beste Ehefrau von allen zum Abschied geküsst, den Hund gestreichelt, Ledermontur an und auf geht’s; die Straße ruft. Gegen 17.00 Uhr fahre ich aus Heidelberg hinaus und habe ein etwas mulmiges Gefühl im Bauch. Würde die Maschine diese Tour durchhalten? Und vor allem, würde ich diese Tour durchhalten? Seit fast 20 Jahren, nach dem tödlichen Motorradunfall meines Bruders (typische Situation: besoffener Autofahrer biegt links ab und fährt ihn einfach über den Haufen), habe ich keine längere Motorradtour mehr unternommen. Überhaupt besitze ich erst seit etwa zwei Jahren wieder eine BMW R 100 GS, und die Guzzi kam erst Anfang diesen Jahres dazu. Meine längste Tour seit dieser Zeit war dieses Jahr zu einem Guzzitreffen nach Bonefeld, bei der mit etwas Umwegen durch die Pfalz und den Hundsrück etwa 700 KM zusammenkamen. Nun, die Maschine ist fast neu und hat erst 4.000 KM auf dem Buckel, und ich bin mit meinen 48 Jahren auch noch ganz gut in Schuss; wir gehen es also an. Ein Liedchen auf den Lippen und Begriffe wie Freiheit und Abenteuer im Sinn, fahre ich auf der A5 meinem ersten Gewitter entgegen. Irgendwie fühle ich mich wie Peter Fonda in „Easy Rider“, einem Kultfilm aus meiner Jugend. Nur, dass ich jetzt keine schießwütigen Spießer in ihren Geländewagen überhole, sondern Wohnwagengespanne mit vorwiegend gelben Nummernschildern. Die Kinder grinsen mich an und mancher treue Familienvater schau mir und meiner Dicken wehmütig nach. So haben sich die Zeiten geändert. Kurz vor Freiburg war es dann soweit: Heftiger Hagel und Regen machen das Weiterkommen fast unmöglich. Aber meine Regenkleidung hält einigermaßen dicht und ich freue mich über die Abkühlung nach der drückenden Hitze an diesem Tag. Kurz darauf wieder klarer Himmel, die Stimmung steigt wieder, und es läuft gut.

Habe gegen 20.00 Uhr die Schweiz (will heute bis Luzern kommen, um bei einem Freund, den ich per Mail um Asyl gebeten habe, zu übernachten) erreicht und es fängt wieder an zu regnen. Im Baselbiet liegen die ersten Geröllhalden auf der Straße, die Bäche führen braunes, schmutziges Hochwasser, und in mehreren Ortschaften pumpt die Feuerwehr die Keller aus. Donnerwetter, hier muss es aber abgegangen sein. Noch ist meine Stimmung gut. Als sich der Regen aber allmählich zu einem tropischen Dauerregen ausweitet und ich nunmehr kaum noch die Straße in der Dunkelheit ausmachen kann, trübt sich meine Stimmung genauso ein, wie das Visier meines Helmes. Kurz vor Aarau überholt mich ein Motorradfahrer und fuchtelt wie wild mit den Armen und deutet auf sein Heck. Als ich anhalte, um ihn zu fragen was los sei, war er auch schon wieder in der Regenwand verschwunden. Habe mein Gepäck kontrolliert, habe die Lichter überprüft, konnte aber nichts feststellen und war etwas verwundert über sein Verhalten. Den wahren Grund sollte ich erst am nächsten Morgen erfahren.

Nach meiner Ankunft in Luzern habe ich mit Bruno noch ein wenig über alte Zeiten geplaudert (wir kennen uns schon seit mehr als 10 Jahren und sind zusammen in Bali Motorrad gefahren und haben gemeinsam mit meinen tibetischen Freunden Nepal bereist) und bin dann schnell auf meinen Schlafplatz verschwunden. 

Donnerstag, 28. Juni 2001

Am Morgen ein hoffnungsfroher Blick zum Fenster – Dauerregen. Ich warte also noch etwas zu, vielleicht wird es besser. Mein Zeitplan kommt dadurch etwas durcheinander, da ich mir in den kommenden zwei Tagen einiges an Strecke vorgenommen habe und ich mir ausrechnete, dass ich etwa 10-12 Stunden am Tag auf der Maschine sitzen müsste, um alle Pässe zu schaffen, die da auf mich warteten.

Bruno meint, ich solle mir noch ein Paar Überhandschuhe in der Stadt besorgen, da die Handschuhe der Schwachpunkt in meine Ausrüstung seien. Gesagt, getan. Wetze kurz zu einem Motorradhändler und erstehe für 20 Fränkli Überhandschuhe, trete aus dem Laden und es hört auf zu regnen. Wunderbar, denke ich und beschließe Murphys Law für mich so abzuändern, dass man nicht braucht, was man dabei hat.

Als ich die Maschine zur Weiterfahrt aus der Garage rolle, sehe ich, warum der Motorradfahrer gestern so wild um sich gefuchtelt hat: Einer der Stoßdämpfer ragte einsam gen Himmel. Der V2 hatte wohl doch so geschüttelt, dass sich die Schraube am oberen Befestigungspunkt herausvibriert hatte und der Stoßdämpfer aus der Verankerung gesprungen ist. Oder haben sie in Mandello nur vor der Mittagspause vergessen, die Schrauben richtig anzuziehen? Ich fuhr zwar bei dem Regen nicht schnell und hatte absolut nichts am Fahrverhalten bemerkt, aber es wurde mir doch etwas mulmig bei dem Gedanken, dass so etwas auch bei Speed auf der Autobahn hätte passieren können. Gemeinsam mit Brunos Freundin schaffe ich es, ihn wieder in die Verankerung zu bringen, und jetzt brauche ich nur noch eine Garage, die mir eine neue Schraube einsetzt. Der Schraubergehilfe in der ersten Garage die ich anfahre, meint, dass der Bolzen abgerissen sei, und dass das alles ausgebohrt werden müsse, um dann neue Gewinde einzuschneiden. Mein zaghafter Einwand, dass ich dies beim besten Wille nicht erkennen könne, und dass ich meine, dass sich nur die Schraube herausvibriert hätte, quittierte er mit einem milden Lächeln und versuchte dann eine 8er Schraube in ein 7er Gewinde zu murksen. Ich konnte ihn dann doch überreden, mir einen Motorradhändler in der Nähe zu nennen und siehe da, es war eine Guzziwerkstatt nur ca. einen Kilometer entfernt. Der Meister drehte mir eine Schraube in die Verankerung, um den Dämpfer zu fixieren, lehnte eine Bezahlung ab und wünschte mir eine gute Weiterfahrt. Soviel zu Werkstätten.

Auf der Fahrt zum Grimselpass war die Straße durch einen Erdrutsch blockiert, und ich musste einen Umweg über Forstwege hoch durchs Gebirge machen. Ansonsten kein Problem. Nur war ich im Moment so verunsichert mit meinem Stoßdämpfer, dass ich mehrmals angehalten habe, um zu sehen, ob noch alle Teile an der Guzzi sind.  Das Moped verlor aber keine lebenswichtigen Teile mehr.

Da die Wolkendecke bei rund 2.000m hing, erlebte ich die Grimselpasshöhe in milchiger Suppe. Die Abfahrt zur alten Furkastraße war schon besser und im Wallis kam langsam wieder die Sonne durch. Hier bemerkte ich plötzlich aus den Augenwinkeln einen Schatten im Rückspiegel und drehte mich kurz mal um. Unbemerkt hatte sich ein Uniformierter mit seiner BMW in meinen toten Winkel geschlichen und klebte nun an mir wie ein Schatten. Gottseidank fuhrt ich gerade gesetzeskonform und nach 20 Kilometer Beobachtung gab er entnervt auf und realisierte, dass er wohl woanders sein Knöllchen loswerden musste.

Auf dem großen St. Bernhardt wollte ich eigentlich die berühmten Bernhardiner besuchen um zu sehen, ob die wirklich ein Whiskyfässchen am Hals haben. Aber bei dem Nebel, der da oben herrschte, waren diese einfach nicht in der Laune, für die Touries zu posieren. Also fuhr ich weiter und wedelte bei schönem Sonnenschein die Abfahrt ins Aostatal hinunter. Guzzi, so sagte ich, jetzt bist du in der Heimat, also benimm dich ordentlich und breche nicht zusammen. Der geneigte Leser wird unschwer erkennen, zu diesem Zeitpunkt waren wir noch keine Freunde. 

Den kleinen St. Bernhardt erlebe ich endlich bei schönem Wetter. Die Fahrt ging vorbei an hohen Wasserfällen und meine Stimmung war eigentlich wieder wie am Anfang der Reise. Das Wetter besserte sich, der V2 bollerte unter mir sonor und zuverlässig, und die restliche Guzzi löste sich auch nicht in ihre Einzelteile auf. Was wollte ich mehr? Nun, etwas zu essen und ein Bett für die Nacht wäre nicht schlecht. Volker, sagte ich zu mir, du kannst auch nie zufrieden sein. Eigentlich wollte ich in der Gegend von Val d’Isere auf einem Campingplatz übernachten.

Aber als ich ankam, stellte ich fest, dass hier nur im Winter die Lichter angingen, der Campingplatz eine Stoppelwiese an der Hauptstraße war, und dass es hier saukalt geworden war. Außerdem wollten sie an der Tanke für den Liter Super mehr als DM 2,50. Kurzfristig entschloss ich mich daher, am Abend noch über den Col de l’Iseran zu fahren, um danach meine Hunger-, Tank- und Übernachtungsprobleme zu lösen. Der Pass war mal wieder im Nebel, und es fing an zu nieseln, so dass ich keine Lust auf Camping hatte und mir in der nächsten größeren Ortschaft einen Gasthof mit Fremdenzimmern suchte. Ein heißes Bad, ein gutes Abendessen und nette Gespräche mit einem anderen Pärchen, das mit einer BMW nach Korsika unterwegs war, versöhnte mich mit diesem Tag. Zufrieden schlief ich ein und freute mich auf die „Route des Grandes Alpes“, die ich am nächsten Morgen angehen wollte.

Freitag, 29. Juni 2001

Wie üblich nach dem Aufwachen ein hoffnungsfroher Blick aus dem Fenster. Und was soll ich sagen, absolutes „Kaiserwetter“. Über dem Massif de la Vanoise schaute gerade die Sonne über die Bergspitzen. Das Tal lag zwar noch im Schatten aber über mir wölbte sich ein strahlendblauer Himmel. Die oberen Almen an den Bergen lagen schon im gleißenden Sonnenlicht. Jetzt konnte mich nichts mehr halten. Nach einem ausgiebigen Frühstück, einigen Abschiedsworten zu den beiden Bikern, die nach Korsika wollten, und nach einigen guten Ratschlägen anderer Hotelgäste, saß ich kurz nach 8.00 Uhr auf meiner Maschine und steuerte den ersten Pass an diesem Tag an. Ich hatte mich entschlossen, über den Mont Cenis noch mal ins Italienische zu fahren und nicht die Route über den Galibier zu nehmen. Die Auffahrt war klasse, mehrfach blieb ich stehen, um das wunderschöne Bergpanorama im Morgenlicht der Sonne zu bewundern. Oben auf dem Pass führte die Straße durch ein Hochtal, vorbei an klaren Bergseen ging es über die Grenze, die, EU sei Dank, nunmehr nur noch ein verlassenes Steinhäuschen ist. In Italien führte mich mein Weg nach Susa und dann gleich wieder in Richtung Frankreich zum Mont Genèvre um nach Briancon im oberen Durancetal zu kommen. Diese Gegend kannte ich von vielen Aufenthalten während meiner aktiven Zeit als Wildwasserkanute.

Hier an der Durance hatten wir mehrere Frühjahrslager, um die umliegenden Bäche zu befahren. Leider waren mein Können im Wildwasser oftmals so, dass ich einige Bäche mehr von unten, kopfüber im Boot hängend, kennen gelernt habe. Ist schon ein irres Gefühl, kopfüber einen Wildbach hinunterzutreiben und während die Felsen am Kopf nur so vorbeirauschen zu überlegen, wie jetzt die verdammte Eskimorolle wieder funktioniert. Paddel anlegen, Hüftknick, der Kopf darf zuletzt aus dem Wasser, so die Theorie. Leider hat es in der Praxis dann oft doch nicht so geklappt, so dass ich ausstieg und versuchte mit Paddel, Boot und mir selbst das rettende Ufer zu erreichen. Aber Spaß hat es mir immer gemacht, vielleicht auch deshalb, weil du als Kanute immer versuchen musst, mit dir, dem Boot, dem Wasser und der Natur im Einklang zu sein und weil unter den Kameraden(innen), mit denen du auf einen Bach gehst, Einigkeit darüber herrschen muss, dass jeder im Notfall für den anderen da sein muss, denn nicht selten ist es bei anspruchsvollen Bächen so, dass sie nur im Team erfolgreich bezwungen werden können.

In Briancon traf ich wieder auf die „Route des Grandes Alpes“ und ging gemütlich meine nächsten Pässe an. Jetzt standen der Col d’Izoard, der Col de Vars und, als absoluter Höhepunkt meiner Reise, der Col de la Bonnette auf dem Plan. Die Fahrt führte durch wunderbar grüne Bergwälder, über saftige Almen und vorbei an schneebedeckten schroffen Gipfeln. Ich war von den wechselnden Eindrücken so überwältigt, dass ich langsam nicht mehr in der Lage war, alles Gesehene zu verarbeiten. Aber bei dieser Reise sollte ja der fahrerische Aspekt im Vordergrund stehen. Und ich kann mit Fug und Recht behaupten, in dieser Beziehung kam ich bei dieser Reise voll auf meine Kosten. Denn im Gegensatz zu Deutschland, der Schweiz und, wie ich bei meinen beiden kurzen Abstechern feststellen musste, Italien, ist in Frankreich der Straßenverkehr relativ ungeregelt und nicht mit einem Schilderwald überfrachtet. Außerorts gilt generell Tempo 90 und vielfach sind die kleinen Bergsträßchen so gebaut, dass ich dieses Tempo mit meiner gepackten Guzzi eh nicht ohne Sturzgefahr erreichen kann. Ich habe immer mehr den Eindruck, dass ich auf 1.000 KM Überlandfahrt in Frankreich weniger Verkehrszeichen mit Vorschriften sehe als auf meiner täglichen Fahrt von Heidelberg nach Frankfurt. Die Polizei macht zwar auch hin und wieder eine Radar- und/oder Verkehrskontrolle, aber von einer organisierten Abzockerei wie in den anderen Alpenländern ist diese noch meilenweit entfernt. Auf meiner ganzen Reise in Frankreich sah ich zwei Polizisten am Straßenrand stehen, und die übrigen Verkehrsteilnehmer hatten mich schon weit vorher auf diese Gesetzeshüter per Lichtsignal aufmerksam gemacht. Hier lässt es sich also noch gut Moped fahren. 

Da ich unbedingt noch über den Col de la Bonnette fahren wollte, kam ich natürlich recht weit nach Osten von meiner Hauptrichtung ab. Aber ich wollte mir dieses Schmankerl unbedingt gönnen, da der La Bonette nach der Sierra Nevada im südlichen Spanien die höchste Passstrasse in Europa ist. Bei der Auffahrt zum Pass wurde ich durch eine Kolonie Murmeltiere willkommen geheißen. Vorbei an schwitzenden Radfahrern (ich bewundere diese Pedalritter wirklich neidlos), die ebenfalls die Passhöhe zum Ziel hatten, schraubte sich die kleine Strasse immer höher und höher. Als ich oben ankam, hatte ich wirklich das Gefühl, auf dem Dach der Alpen zu stehen. Bei der Abfahrt warf ich auf einem Bauerhof ein kurzes Drei-Gänge-Menue ein und war dann, so gestärkt, neugierig, wie es hinter jeder Kurve weitergeht und wie es dort aussehen würde. Meine Route führte mich immer weiter nach Süden und allmählich nahm die Landschaft einen mediterranen Charakter an. 50 KM vor Nizza hatte ich endlich die Gelegenheit, nach Westen über einen weiteren Pass, dessen Name ich vergessen habe, abzubiegen. Auf der Passhöhe war ein wunderschönes Wander- und Schigebiet. Sanft schwingt sich die Straße hinab in das Tal des Var. Es ist inzwischen später Nachmittag geworden und ich freue mich auf die Gorge de Daluis.

Hier bricht sich der Var durch ein rotes Bauxitgestein eine wildromantische Schlucht. Vor Jahren war ich mal mit Freunden durch diese Schlucht gepaddelt und eine schmerzhafte Erinnerung (zwei Rippen waren gebrochen) davon mitgebracht, als ich mal wieder mit der Natur eins war, nur das Wasser und mein Boot mich nicht verstanden haben und sich ihren Weg alleine gesucht hatten. Alles Paddeln und Zureden half nichts und so warf mich mein Boote an einem Felsen ab. Fazit: wunderbare Schlucht, herrliches Wildwasser, gut geschwommen, leider zwei Rippen angeknackst. Aber das  ist schon Jahre zurück, die Wunden sind verheilt, und ich freue mich riesig, die roten Felsen der Schlucht im warmen Licht der tiefstehenden Sonne mit dem Motorrad zu umrunden.

Von der Gorge de Daluis führt mich die Fahrt weiter zum nächsten Highlight im Süden Frankreichs, zum Grand Canyon du Verdon. Wer diese Schlucht noch nicht gesehen hat, sollte unbedingt mal einige Tage hier verbringen. Der Verdon hat sich hier bis zu 700m tief in das Kalkgestein eingegraben. Rund um die Schlucht führt eine Höhenstraße, die bis auf über 1.000m Höhe führt. An manchen Stellen kann man direkt in die Schlucht hinuntersehen, es sind Ausblicke, die man so schnell nicht vergisst. Insbesondere an einer ungesicherten Stelle, ich liege hier immer auf dem Bauch, da ich mich stehend nicht so weit vortraue, schaut man rd. 700m an einer Felsenwand hinunter in die Tiefe, wo sich der Verdon grünlich glänzend wie eine Viper seinen Weg durch die Felsen sucht. Hier bin ich noch nicht gepaddelt, da dieses Wildwasser für mich einfach zu schwer ist. Ich habe die Schlucht aber mal durchwandert. Der Fluss musste dabei viele Male durchschwommen oder durchwatet werden und gegen Ende des ersten Tages haben wir in einer Höhle ein Notbiwak einrichten müssen, da sich ein Gewitter mit Blitz und Donner in der Schlucht entlud, so dass an ein gesichertes Weiterkommen nicht mehr zu denken war. Es war für mich damals ein unvergessliches Erlebnis. Seit dieser Zeit komme ich immer wieder an den Verdon, um die grandiose Natur zu bewundern. Doch heute habe ich keine Zeit für dieses Schauspiel, sondern ich muss weiter zu meiner Hochzeit.

Nach rd. 40 KM ist das Schluchtende erreicht und vorbei an Moustiers Ste. Marie, bekannt für seine Fayencen, führt mich mein Weg direkt in die Provence. Ich durchquere das Hochplateau von Valensole, wo zu dieser Zeit der Lavendel in voller Blüte steht. Als ich das Blütenmeer durchpflüge, öffne ich mein Visier bis an den Anschlag, fahre einen gemächlichen Reifen und ziehe die wohlriechende Luft so tief in die Lungen wie ich nur kann. Rings um mich ein Summen von den Myriaden von Bienen und Hummeln, die in den Lavendelfeldern reichlich Ernte halten. So gedopt komme ich erneut in das Tal der Durance, die ich bei Manosque überquere. Jetzt sind es nur noch rd. 130 KM bis Avignon, das ich gegen 8.00 Uhr abends erreiche. Ich umfahre Avignon auf der Autobahn und muss bei meiner Ausfahrt in Orange nichts bezahlen. „Sorry, wir sind im Streik“. So steht es am Kassenhäuschen angeschlagen.

Ich bedanke mich innerlich für das Geschenk und erreiche kurz darauf Pont St. Esprit, wo die Ardèche in die Rhone mündet. Kurz nach 9.00 Uhr bin ich endlich am Beginn der großen Ardècheschlucht. Jetzt lasse ich die Guzzi nochmals richtig rennen. Die Straße windet sich ungefähr 35 KM Kurve an Kurve entlang der Schlucht. Dies ist sozusagen meine Hausstrecke, die ich sonntags morgens oft fahre, um irgendwo einen Cafe zu trinken. Die Kurven sind alle fair, keine hängt oder zieht sich zu. Wenn kein Verkehr ist, und um 9.00 Uhr ist kein Verkehr, kann man  es richtig knallen lassen. Zum ersten Mal spüre ich so etwas wie Einigkeit mit meiner Guzzi. Präzise winkelt das Bike ab und fährt genau auf den Punkt dahin, wo ich sie haben will. Guzzi, sage ich, ich glaube wir werden doch noch Freunde. Pünktlich gegen 10.00 Uhr laufe ich erschöpft aber mit einem glücklichen Gesichtsausdruck bei unseren Nachbarn ein. Hier steigt gerade der Polterabend und, wie im Süden üblich, wird gerade das Abendessen aufgetragen. Der Pastis und der Rouge fließen in Strömen. Ich muss viele Fragen beantworten, woher, warum mit dem Motorrad, wo ist Sigi, wie war es in Indien, viel essen und noch mehr trinken. Gegen 1.00 Uhr in der Nacht falle ich erschöpft in mein Bett. Heute war ich rd. 13 Stunden auf dem Motorrad, bin rd. 700 km gefahren und habe über 10 Pässe bezwungen. Ich habe so viele neue Eindrücke gewonnen, dass ich diese erst nach und nach verarbeiten kann. Aber es war einer der schönsten Tage, die ich mit dem Motorrad bisher verbracht habe.

Samstag, 30. Juni 2001

Heute ist für mich ein Ruhetag, heute ist Hochzeitstag. Ich muss meine Unterschrift als Trauzeuge beim Bürgermeisteramt abgeben und sonst nur feiern. Diese Tatsache kommt meinem Hintern sehr entgegen, der vom vielen Fahren etwas weh tat. Doch muss ich sagen, die Cali Special hat eine recht guten Sitz, und ich habe es mir wesentlich schlimmer vorgestellt, was das Sitzen betrifft. 

Nach dem Frühstück ging ich zu unserem Haus, um die abreisenden Mieter zu verabschieden. Da wir unser Haus finanzieren müssen, vermieten wir es, wenn wir nicht in Südfrankreich sind, um die Kosten etwas geringer zu halten. Nach deren Abreise richte ich das Haus für die Nachmieter her, plansche eine Stunde im Pool, reinige und schmücke die Guzzi für den Corso zum Bürgermeisteramt, werfe mich dann in Schale und gehe gegen 16.00 Uhr zu den Nachbarn, um der Dinge zu harren, die da kommen mögen. Als es endlich losgeht, stürmt eine Tante, weit über 70 Jahre alt, auf mich zu, begrüßt mich herzlich, ich hatte sie an Weihnachten schon kennen gelernt, und besteht darauf, mit mir und dem Motorrad zum Bürgermeisteramt zu fahren. Schnell organisiere ich für sie noch einen Helm. Unterwegs knufft sie mir in die Seite und sagt: „Komm Volker, lass uns nach Paris durchbrennen.“ Lachend und hupend fahren wir daraufhin durch das Dorf.

Die Hochzeitszeremonie ist genauso wie bei uns in Deutschland. Der Bürgermeister, angetan mit einer Schärpe in den Farben Frankreichs, liest einige Zeilen aus dem Code Civil über die Ehe vor, stellt dann die obligatorische Frage, die mit „oui“ beantwortet wurde, besiegelt die Urkunde und unsere Unterschriften und das war’s. Danach ein kleiner Empfang mit dem obligatorischen Fototermin, und dann geht es zurück in den Garten, wo gegen Abend ein Hammel am Spieß gebraten wird. Wie so üblich auf Hochzeiten, wird viel erzählt, viel gegessen und getrunken und ein weinig getanzt. Da meine Sprachkenntnisse in Französisch sehr bescheiden sind, habe ich natürlich recht große Schwierigkeiten, mich mit den Hochzeitsgästen zu unterhalten. Aber irgendwie klappt es ganz gut, und ich kann mich einigermaßen verständlich machen. Nur als gegen Mitternacht die etwas anrüchigen Witze erzählt werden, kann ich nicht mehr mit. Hier habe ich einfach zu große Sprachdefizite um die Pointen zu erkennen. Ein älteres Ehepaar, sie spricht ganz passabel Englisch, erzählt mir, dass sie eine Goldwing hätten, und dass sie vor einigen Jahren damit in der Türkei gewesen wären. Ich erzähle, dass wir auch mal mit unserer BMW R 75/5 vor 25 Jahren fast die gleiche Reise unternommen hatten und schnell war wieder ein Thema gefunden, wo es sich trefflich plaudern lässt. 

Als gegen 1.00 Uhr, die Käseplatte war gerade herumgegangen, zum Tanz gerufen wurde, habe ich mich als notorischer Nichttänzer in mein Quartier verdrückt. Am nächsten Morgen habe ich erfahren, dass die ganze Party bis gegen 4.00 Uhr in der Frühe gegangen ist.

Sonntag, 01.Juli 2001

Tag der Heimreise. Nach dem Frühstück begrüße ich unsere neuen Mieter und gehe dann zu den Nachbarn um zu sehen, was vom kalten Buffet noch übrig geblieben ist. Alle sitzen im Garten um eine großen Tisch und verputzen die Reste vom Vortag. Ich schaue noch ein paar Runden vom Formel 1 Rennen an, packe dann aber schnell zusammen, verabschiede mich und bedanke mich für das schöne Fest und die Ehre als Trauzeuge eine kleinen Beitrag zur Hochzeit geleistet haben zu können. Der Hausherr klopft mir auf die Schulter und sagt, dass er noch drei Kinder habe, und dass im Dezember sich der Nachwuchs einstellen würde. Es gäbe für mich also noch viele Gründe, wieder zu ihm an die Ardèche zu kommen. Wir lachen beide zum Abschied, und dann gebe ich meiner Guzzi die Sporen. Da es schon wieder über 35 Grad hat, beeile ich mich, dass ich zügig über Aubenas in die Berge der Nordardèche komme. Hier auf rd. 1.000m Höhe lässt es sich einfach bei dieser Hitze besser aushalten. Vorbei an Vulkankegeln fahre ich in Richtung Le Puy, um dann die Auvergne auf leicht geschwungenen Straßen zu durchqueren. Auf diesen Straßen lasse ich die Guzzi gemütlich knapp überm Tempolimit rollen, genieße die schöne Landschaft und schnuppere den Duft von frisch gemähten Heuwiesen. Es sind diese Straßen, wo man  ohne große Anstrengung Strecke machen kann. Gegen Abend suche ich mir einen kleinen Campingplatz an der Grenze zu Burgund. Die Madame vom Platz berechnet mir für die Übernachtung umgerechnet DM 7,50 und gibt mir noch gratis einen Tipp, wo man eine gute Hasenterrine bekommen kann. Der Tipp war übrigens gut.

Montag, 02. Juli 2001 

Als um 6.00 Uhr in der Frühe die Gemeindearbeiter im benachbarten Schwimmbad mit dem Hochdruckreiniger anfangen zu arbeiten, war für mich die Nacht zu Ende. Kurz geduscht und um 7.00 Uhr saß ich schon wieder auf der Guzzi. Habe dann in Autun in einem Bistro in der prallen Morgensonne ein kurzes Frühstück eingeworfen und dann ging es auf die letzte Etappe dieser Reise. Ich durchquerte die besten Lagen von Burgund. Meursault, Pommard und viele andere bekannte Weinorte lagen an meiner Wegstrecke. Beim Gedanken an die hervorragenden Tropfen, die die dortigen Winzer dem Boden und den Reben zu entlocken vermögen, lief mir das Wasser im Munde zusammen. Die Weingüter waren prächtig und strotzten vor Selbstbewusstsein ob der guten Qualität, die die Burgunderweine darstellen. Mit dem nötigen Kleingeld versehen, macht es bestimmt viel Spaß, sich auf diesen Gütern einzuquartieren und Küche und Keller auszuprobieren.

Ich lasse Beaune und Dijon links liegen und fahre an der Saone entlang das Doubstal hinauf bis Besancon. Kurzfristig entschließe ich mich dann noch einen Schlenker über die Vogesen zu machen, da ich gut in der Zeit liege und das Wetter ideal ist. Also fahre ich in Richtung Epinal und Gérardmer hoch zum Col de la Schlucht, biege links ab auf die Route des Crétes und schwinge diese gemütlich nach Norden entlang. Als mir aber die ersten Kamikaze mit ihren Reiskochern auf meiner Seite entgegenkommen und mich fast in den Straßengraben zum Ausweichen zwingen, habe ich die Schnauze voll vom Kurvenfahren, fahre ab ins Rheintal und mache mich über die Autobahn auf die letzten Kilometer bis nach Heidelberg.

Zuhause angekommen werde ich freudig begrüßt. Ich küsse die beste Ehefrau von allen, streichle den Hund und schiebe die Guzzi in die Garage. Am Ende der Reise stehen mehr als 6.800 KM auf der Uhr. Ich habe in fünf Tagen mehr als 2.700 KM gefahren, bin in der Schweiz, in Italien und in Frankreich gewesen und habe die schönsten Pässe der Alpen mit meiner Dicken bezwungen. Die touristischen Aspekte standen hier klar im Hintergrund. Ich wollte einfach nur Motorradfahren in einer der schönsten und für den Motorradfahrer anspruchvollsten Landschaften Europas, und ich wollte auch meine Guzzi testen, wollte sehen, ob wir zusammen passen und ob ich mit diesem Motorrad glücklich werden würde. Abgesehen von dem lockeren Stoßdämpfer habe ich keine Probleme mit ihr gehabt und sie hat sich mit einem Durst von unter 5 Liter auf 100 KM zufrieden gegeben. Nächste Woche spendiere ich ihr einen neuen Hinterradreifen und bringe sie zu fälligen Inspektion. Ich glaube, auf dieser Fahrt sind wir doch noch so etwas wie Freunde geworden.

Für mich war es aber auch eine Reise zurück in die Vergangenheit. Über 90% der Strecke kannte ich und war schon mal zusammen mit Sigi und mit unserm VW-Bulli da. Es waren die Erinnerungen an diese Tage, die mich so faszinierten. Jenen Fluss sind wir gepaddelt, in jener Kneipe haben wir gezecht, auf jenem Platz übernachtet, jenen Berg haben wir bezwungen und jene Schlucht haben wir durchwandert. Ich erinnerte mich an Freundschaften, die zum Teil schon über Jahrzehnte gehalten haben und ebenso an solche, die auseinander gingen, sei es weil sich die Interessen im Lauf der Zeit auseinander entwickelt haben und leider auch, weil der Tod auf schmerzliche Weise den einen oder anderen von uns genommen hat. Meist waren es aber Erinnerungen an schöne und unbeschwerte Urlaube und Fahrten, die ich nicht mehr missen will, nicht um alles in der Welt.

Epilog:

Die Guzzi steht inzwischen neu bereift und gewartet in der Garage und ich schraube wieder bei meinen Kunden die PC´s zusammen und betreue die Netzwerke. Aber beide scharren wir schon wieder mit den Hufen um auf irgendeine Tour zu gehen. Fernweh ist halt eine Sucht, von der man auch so schnell nicht wieder loskommt.