EINE GUZZI-GESCHICHTE 1992

Im Sommer 91 begannen wir mit den Vorbereitungen zum 3. Falconelangstreckentest. Geplant waren zwei schwere Allzweck-Gespanne auf Dnepr- und Ural-Basis mit unterschiedlicher Motor- und Fahrwerksausstattung. Mit beiden Fahrzeugen wollten wir auf altbekannter Route die neuen Fahrwerksteile und Beiwagenhalterungen sowie einige Motorenmodifizierungen ausprobieren. Der Herbst verflog im Nu und zum täglichen Werkstattstreß gesellte sich wie so oft die gnadenlose Nachtschicht, die des öfteren fließend in die Frühschicht überging. Mechaniker Christoph hatte in kürzester Zeit sein Dnepr-Gespann aus dem Boden gestampft und von oben bis unten rabenschwarz lackiert. Die exotische Mischung aus russischen Militärteilen und moderner Off-Road-Optik sah wirklich fantastisch aus und stand obendrein noch verhältnismäßig leicht auf seinen grobstolligen Geländereifen. Leider erwiesen sich die Innereien der ausgedienten NF, wie so oft, als rechter Schrotthaufen, wodurch ein immenser Zeitaufwand erforderlich war, um das Gespann zum Laufen zu bringen. 

Trotz allem gaben wir unser Bestes, und am 20.11. ging es dann endlich los. Morgens um sieben schob ich mit Beifahrer Torsten meine brave Falcone in voller Ausrüstung hinaus auf den regennassen Werkstatthof. Die Guzzi sprang sofort an und ihr satter, dumpf schwingender Auspuffsound entlohnte uns sofort für alle Strapazen der letzten Wochen. 

Die ersten 60 km bis Ansbach waren schnell geschafft und bei einem fürstlichen Frühstück in der Guzzi-Werkstatt von Helmut sprühte unser Tatendrang förmlich über. Nachdem Helmut trotz einiger Proteste seine gesamte Expeditionsausrüstung im Dnepr versteckt hatte, fuhren wir gesättigt und bester Laune über Dinkelsbühl/Nördlingen auf die Autobahn Ulm/Bregenz. 

Bei leichtem Nieselregen hatten wir unser erstes technisches Problem. Der Motor spuckte und wollte einfach keine höheren Drehzahlen mehr annehmen. Der Fehler war uns bekannt, denn der innen verrostete Tank verstopfte trotz Zusatzbenzinfilter den Zulauf und die Düsen. Also: Werkzeug raus und Vergaser zerlegen. Nach kurzer Weiterfahrt erneut die gleichen Symptome und anschließende Reparatur. Wir wechselten Kerzen und Stecker, entfernten den nassen Luftfilter, prüften das Ventilspiel und säuberten nochmal den Vergaser, ohne Erfolg. Das Gespann von Christoph wurde immer langsamer und lief nur noch mit Mühe bis Neuravensburg am Bodensee, wo wir bei Bekannten übernachteten. Mit einem guten Essen und einigen Schluck Bier wurde die angekratzte Stimmung der Crew aufgefrischt und der Schlachtplan für den kommenden Tag ausgearbeitet. 

Die morgendliche Fehlersuche artete in Teilzerlegung der Problem-Falcone aus und ich ahnte, daß auch der zweite Tag des Langstreckentests nur wenige Kilometer Entfernungsgewinn bringen würde. 

Um nicht noch mehr Zeit zu verlieren, beschloß ich, bis Lugano vorauszufahren, wo wir uns auf dem Campingplatz San Rocco verabredet hatten. Christoph und Helmut wollten nach erfolgreicher Reparatur gemütlich hinterherfahren oder bei weiteren Störungen die Testfahrt abbrechen. Nach Austausch diverser Ersatzteile und Werkzeugen trennten sich unsere Wege.

Bei kühlem, trockenem Wetter kamen wir schnell voran und erreichten ohne technische Probleme die Auffahrt zum Bernardino-Tunnel in Thussis, wo bei mehreren Milchkaffees die Winterausrüstung vervollständigt wurde. Anschließend brummten wir, von leichtem Schneegestöber begleitet, zügig durch die Via Mala Schlucht und entlang der Autobahn bis hinauf zur Tunneleinfahrt. Trotz des enormen Gesamtgewichtes von geschätzten 480 kg und der kalten Witterung zog die Falcone mit dem montierten 42er Kettenrad am Berg gut durch und hatte keine zu hohen Anschlußdrehzahlen in den unteren Gängen. Hier hatten wir aus früheren Testfahrten gelernt und dieses Mal mit 1:2,62 anscheinend die richtige Wahl zwischen Durchzug und Endgeschwindigkeit getroffen. 

In San Bernadino, auf der anderen Tunnelseite, erwartete uns die Abfahrt auf der verschneiten Paßstraße mit teilweise vereistem Untergrund. Obwohl wir Reifen mit Geländeprofil montiert hatten, machte sich das Gespann bei starkem Gefälle mehrmals selbständig und rutschte, unlenkbar geworden, in die aufgetürmten Schneemassen. Zum Glück sind die Bauteile des Ural-Beiwagens sehr stabil ausgelegt, so entstanden keine Schaden beim Aufprall auf die bereits angetaute Schneebarriere. Überhaupt, finde ich, ist in solchen Situationen der robuste Stahlblech-Seitenwagen unbezahlbar. Man fühlt sich einfach sicher und geborgen im grobschlächtigen Russenboot. Talwärts wurde es zunehmend wärmer und die letzten 50 km bis Lugano waren ein Kinderspiel. Nach Passieren der italienischen Grenze bei Gandria am Luganer See war es nur noch ein Katzensprung zum Campingplatz van Anna und Carlo in San Rocco, wo leider nur ein Testteam den Tag beschließen konnte. Wie befürchtet, hatten Christoph und Helmut die Fahrt unweit von Chur die Fahrt abbrechen müssen. Zuviele technische Probleme hatten sich aneinandergereiht und eine Weiterfahrt unmöglich gemacht. Nach Abschluß der Langstreckenfahrt wollten wir uns intensiv mit den Ursachen dieser Pannen befassen, um einem weiteren Testfahrt-Drama dieser Art vorzubeugen. Erfahrungswerte im Anschluß an den Testbericht! Nach erholsamer Nacht in Carlos Hütte packten wir nach dem Frühstück gemütlich zusammen und fuhren nach der üblichen Abschiedszeremonie die immer wieder schöne Abfahrt auf engen Bergsträßchen hinunter zum See. Ohne Eile tuckerten wir am Lago entlang bis zur Schweizer Grenze, durchquerten die Stadt Lugano und folgten anschließend der Autostrada Richtung Milano. Dort fanden wir nach kurzer Suche die Messe und einen bewachten Parkplatz mit freundlichen Beamten, die vom Sichtfeld ihres Häuschens aus einen scharfen Blick auf unser Gefährt warfen. Gespannt und bester Laune stürmten wir die Ausstellungshallen, um möglichst viele Informationen und technische Anregungen mit nach Hause zu nehmen. Wie bei vielen Zweiradmessen war das Angebot überwältigend und nach einem Gewaltmarsch mit Cross-Stiefeln und überschwerer Ausrüstung kamen wir erschöpft und mit bleiernen Füßen aus den heiligen Hallen zurück zu unserem Unikum. Bei heißen Maroni und anderen Snacks legten wir die malträtierten Gliedmaßen hoch und erholten uns etwas vom technischen Spektakel der Mailänder Messe. Wir bedankten uns bei den Parkplatzwächtern und entflohen der Großstadt mit Ziel Mittelmeer.  

Die Guzzi lief brav die 150 Autobahnkilometer bis nach Genua, wo wir nach kurvenreicher Abfahrt die Autostrada verließen. Über Varazze und Savona, entlang der Küstenstraße, erreichten wir am Abend die kleine Stadt Noli, wo wir nach einer fantastischen Pizza Calzone direkt am Strand zwischen den Fischerbooten unsere Schlafsacke ausbreiteten. Die Nacht war kurz, denn gegen sechs Uhr früh wurde ich durch Stimmen und knirschende Stiefelgerausche geweckt. 

Die Fischer rüsteten zum Aufbruch, und nachdem ich sah, wie das erste Boot über gefettete Holzplanken ins Meer rutschte, sprang ich schnell aus den Federn. Noch nie hatte ich so etwas hautnah erlebt. Ich begrüßte einige Männer und bot mit verständlichen Gesten meine Hilfe an, die dankend angenommen wurde. Auf diese Weise schob ich zum ersten Mal ein Fischerboot in die italienische Riviera – ein tolles Erlebnis. Beim nächsten Boot war ich bereits in Übung und legte selbständig mehrere Planken bis ans Wasser. Das große Holzboot glitt mit Leichtigkeit hinaus und ich lief in meinem Arbeitseifer bis ins Meer mit. Natürlich liefen meine Stiefel voll Wasser und die Fischer hatten kräftig was zu lachen. 

Anscheinend hatte es sich schon herumgesprochen, daß wir am Strand übernachtet hatten, denn als wir vom Bäcker zurückkamen, war unser Gespann von zumeist älteren Italienern umringt. Wir saßen an der Strandpromenade, frühstückten gemütlich und beobachteten die Männer beim Gespräch. Irgendwie ist es lustig, wenn sich alte Fischer mit vielsagenden Gesten unterhalten, vor allem im Süden. Viel ausdrucksvoller und interessanter als bei uns. Tja … Italien, Meer, Urlaub, Falcone fahren … Wir nahmen Abschied und fuhren wieder los. 

Die Küstenstraße hatte uns voll in ihren Bann gezogen, Beifahrer Torsten gab sein Bestes, um das dritte Rad am Boden zu halten. Bei strahlendem Sonnenschein erreichten wir das Fürstentum Monaco, wo wir nach einer ausgiebigen Stadtrundfahrt in Monte Carlo am Hafen eine kleine Pause mit Kartenschreiben und Sonnenbaden einlegten. Leider hatten wir durch die technischen Probleme am ersten Tag viel Zeit verloren und mußten deshalb bald weiter. Unser Tagesziel war Ste. Maxime an der Cote Azur, welches wir spät am Abend erreichten. Wir waren erledigt und legten uns auf Ohr. Der nächste Vormittag gehörte dem Service. Die Antriebskette hing am Boden, bei der Strecke kein Wunder. Unsere verstärkten Kettenspanner hatten sich voll bewährt, denn ich bin sicher, daß der Serienspanner schon längst das Zeitliche gesegnet hätte. Das starke Speichenrad der V7 vorne blieb ebenso von den enormen Querkräften unbeeindruckt wie die Beiwagenhalterungen des schweren Ural-Bootes. Lediglich der Seriendampfer am dritten Rad war nach unserer Meinung etwas zu weich, denn mit Gepäck hing das Fahrzeug am Seitenwagen ein bißchen durch. Ein Mangel, der sich leicht beheben ließ. 

Der Ventiltrieb mit den neuen, noch weicheren Federn lief ruhig und zuverlässig, ebenso wie die Kennfeldzündung, die wir eigentlich umsonst kontrollierten. 0,3 1 Öl mußten wir nachfüllen – auf 1600 km Distanz kein Thema. Der Sprit-Verbrauch durch die flotte Fahrweise und das hohe Gewicht ca. 6,5-71 Bleifrei-Normalbenzin. 

Wir waren mit unserem Fahrzeug sehr zufrieden und drehten übermütig eine Ehrenrunde am Strand. Natürlich fuhren wir uns sofort fest, denn gewichtige Monster wie unsere Guzzi mit Anhang haben im feinen Sand nichts zu suchen. Irgendwie kamen wir wieder auf die Straße und warfen einen letzten Blick auf das Meer. Es war warm für die Jahreszeit, ca. 14 Grad, keine Wolke war zu sehen. Gemütlich ging es über Draguignan auf der D 955 durch die Provence mit dem Etappenziel Grand Canyon du Verdon, den wir gegen Mittag erreichten. In einer kleinen Bar an der Straße hielten wir an, um unseren mächtigen Kaffeedurst zu stillen. Leider waren wir ja sozusagen auf einer Testfahrt, und damit waren nicht Bars und Bistros gemeint. Also weiter. Torsten klemmte sich hinter den Lenker und fuhr auf engen Sträßchen durch den wunderschönen Canyon. Wir schossen ein paar Bilder und folgten lange Zeit dem breiten, steinigen Flußbett. Plötzlich kam uns der Gedanke einer Flußdurchquerung. Nach kurzer Inspizierung der Wassertiefe nahmen wir Anlauf und preschten im 2. Gang ins ca. 30 cm tiefe Wasser. Der montierte Geländereifen griff ordentlich zu und transportierte uns heil auf die nächste großflachige Kiesinsel. Dort stiegen wir lachend und deutlich nasser als zuvor vom Gespann, denn das Boot hatte einen ziemlichen Wasserschwall hochbefördert. Die Guzzi dampfte wie eine alte Lok, lief aber munter weiter, als wäre nichts geschehen. Wir wiederholten das Ganze mehrere Male mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten und waren nun endgültig vom unschlagbaren Durchzug unter Last bei extrem niedrigen Drehzahlen überzeugt. Die Schwungmasse ist eben Gold wert. Triefend zogen wir in Richtung Gap van dannen. Bei Anbruch der Dunkelheit passierten wir Grenoble, ab da ging es auf die Autobahn. Es war sehr frisch geworden, wir zogen warme Sachen an und füllten beim Tankstop den 10 L Kanister für alle Fälle. Eigentlich hatte Torsten am nächsten Morgen arbeiten müssen, doch das war unmöglich zu schaffen.

Kurz nach Mitternacht trafen wir in Genf ein. Heißer Tee und Knabbereien brachten uns wieder auf die Beine und wir kämpften uns weiter. Nach endloser, frostiger Fahrt blieb plötzlich die Guzzi stehen. Der Tank war leer und die Autobahnrastplätze geschlossen.

Zum Glück war unser Kanister voll und so konnten wir bis Basel weiterfahren. In der Morgendämmerung passierten wir die Grenze und fuhren bis zum Rasthof Schauinsland. Noch immer lagen 300 km Autobahn vor uns – schon der Gedanke daran war niederschmetternd.

Wie bei vielen Langstreckentests wurden die Abstände der Stops gegen Ende der Fahrt immer kürzer, die eingelegten Pausen dafür länger und länger. Im Gegensatz zur Falcone, die immer schneller wurde, waren wir restlos erledigt und froren jämmerlich. Irgendwie reihte sich dann doch ein Kilometer an den anderen und wir waren zuhause. Torsten kroch halbtot aus dem Ural und verschwand in seinem Auto. Ich zog die Klamotten aus und tauschte den Schwingsattel mit der überwältigenden Weichheit meines Bettes, schloß die Augen und lauschte dem Dröhnen in meinem Kopf.

Fazit: Die ganze Maschine ist natürlich nur so gut wie ihr schwächstes Bauteil. In unserem Fall hatte Christoph eine alte Falcone mit gravierenden Toleranzschwankungen und Standschäden unter Zeitdruck zusammengebaut. Mehrere Fehler im Zylinder- und Kopfbereich bedeuteten das Aus. Deshalb: Zeit lassen beim Zusammenbauen!

Jürgen Lamprecht