EINE GUZZI – GESCHICHTE 1990

Anfang November 1989 unternahmen wir unsere Jungernfahrt mit meinem gerade zugelassenen Falcone 500 NF-Gespann.

Die frisch importierte Zugmaschine aus Militärbestanden wurde teilzerlegt, umgebaut und mit einem russischen Jupiter-Beiwagen mit 18 Zoll-Seitenwagenrad ausgerüstet. Alle Anschlußteile für die Anbringung des Beiwagens wurden geändert und durch Sonderanfertigungen ersetzt. Am Motor wurde nach alter Manier alles zerlegt, gereinigt, gut geprüft und sauber instandgesetzt. Als nicht serienmäßige Neuerungen wurden folgende Teile eingebaut:

1. Kolben Ø 88,90 mm, ca. 7,5:1 Verdichtung – Sonderanfertigung

2. Ventiltrieb bleifrei, 8 mm, mit weicheren Federn und gehärteten Schaftkappen

3. Feinstromfilter, außenliegend, mit geändertem Ölkreislauf

4. Ritzel, 15 Z. für Beiwagenbetrieb – Kettenrad 35 Z. (i=1:2,33)

5. Zusatzschmierleitung für das Kipphebelgehäuse (Einlaßventil)

6. Polizeiverkleidung, Sturzbügel mit Beinschutz, Spritzlappen

Der Rest des Fahrzeuges blieb serienmäßig. Unser Ziel war es, mit Vollgas oder zumindest mit hoher Belastung alle Schwachstellen des Gespannes herauszufinden.

Als wir endlich alles in und auf unserem Gespann verstaut hatten, ging’s los zum Langstreckentest mit zwei Personen und ca. 470 kg Gesamtgewicht. Die ersten 200 km brachten wir als Gespann-Neulinge mit ungutem Gefühl im Magen hinter uns.

Die Kiste wackelte und schlug derart mit dem Vorderrad samt Lenkung, daß uns als alten Solo-Hasen die Haare zu Berge standen. Als Co-Pilot hatte Mechaniker Erwin unterwegs seine liebe Not mit dem Gepäck und unseren Ersatzteilen. Wie sich herausstellte, hätten wir auf den größten Teil verzichten können.

Weiter ging’s mit einem kleinen Ausrutscher beim Start über die Grasnarbe des Autobahnrastplatzes in Richtung Bodensee. Mit 80 km/h und zivilen Drehzahlen gaben wir dem Motor noch Gelegenheit zum Einlaufen der Maschinenteile. Nach mehrmaligem Fahrerwechsel stieg das Vertrauen in unser Können und die Technik. Unter freudigen Blicken der Beamten passierten wir in Bregenz die Grenze. Gegen Abend erreichten wir Vaduz/Liechtenstein und bei ca. 500 km gingen wir zur Sache: VOLLGAS! ! !

Ab sofort wurden alle Gänge ausgedreht und das Fahrgestell in engere Kurven sportlich hineingewuchtet. Da das Gelände ständig anstieg, änderte sich an der Endgeschwindigkeit kaum etwas, wir waren froh, wenn die Fuhre 80 km/h lief und der vierte Gang durchzog. Nach kurzem Tankstopp und Fahrerwechsel ging es weiter durch die Via Mala-Schlucht und zum San Bernardino. Glatteis und Schnee zwangen uns zum ersten Kreisel auf drei Radern. Gottlob waren die Straßen breit und menschenleer, sodaß wir unser fahrerisches Können voll einsetzen konnten.

Spät in der Nacht erreichten wir unser erstes Etappenziel Lugano und etwas abseits den Campingplatz in San Rocco.

Nach einem ausgiebigen Frühstück untersuchten wir unser Gefährt auf Schwachpunkte und Verschleiß. Im Bereich der Kopfdichtung und des Ventildeckels trat starker Ölverlust auf, der dem Fahrer ständig den rechten Stiefel schmierte.

Die hintere Auspuffhalterung war abgerissen und einige Speichen des Hinterrades lose. Der gesamte Beiwagen hatte sich in den Halterungen verdreht und somit waren Vorspur und Sturz neu einzustellen. Zylinderkopf nachziehen, Ventile einstellen, Zündung und Vergaser justieren waren die letzten Arbeiten vor unserem Start.

Nach kurzer Warmlaufphase trieben wir das Gespann mit Vollgas auf der Autostrada zur Motorradausstellung nach Mailand. Die Großstadt empfing uns mit Regen und Verkehrschaos. Im Anschluß an den Besuch der Fachmesse verließen wir die trockenen Hallen und stürzten uns in das feuchte Stadtgewühl in Richtung Autobahn. Auf der Straße nach Genua gaben wir Vollgas und versuchten, dem schlechten Wetter zu entkommen. Trotz Regen und voller Belastung lief die Guzzi tadellos. Der Motor wurde zunehmend drehfreudiger. An der Küste klarte es schließlich auf und wir folgten dem Meer in Richtung Frankreich. In Noli an der italienischen Riviera erreichten wir am Abend die 1000 km-Marke und übernachteten am Ende der Bucht mit Blick auf das Meer.

Am nächsten Morgen empfing uns strahlend blauer Himmel mit Temperaturen bis 25 Grad Celsius. Das Bilderbuchwetter ließ uns alles vergessen und wir donnerten mit bester Laune und zunehmender Fahrsicherheit auf der Küstenstraße nach Monaco.

Nach anstrengenden Stadtdurchquerungen und Kurvenhatz landeten wir bei Saint Maxime in einem alten verlassenen Steinhaus, wo bei Baguettes und reichlich Rotwein der herrliche Tag beendet wurde.

Quer durch die Provence arbeiteten wir uns am nächsten Tag auf kurvigen Landstraßen bergauf. Die wunderbare Landschaft mit ihren malerischen Städtchen kam dem klassischen Falcone-Gespann mit seinen niedrigen Geschwindigkeitsbereichen sehr entgegen.

In diesem hügeligen Gelände hätten wir eine etwas kürzere Übersetzung gut gebrauchen können – mindestens 16:38=1:2,38 oder besser 16:39=1:2,43 Mit unserem schweren Beiwagen war eine Endgeschwindigkeit über 100 km/h sowieso kaum zu erreichen.

( Es ist wichtig, daß der vierte Gang, bei mittleren Drehzahlen eingelegt, deutlich spürbar weiterzieht. Wer mit 90 km/h Endgeschwindigkeit auskommt und kleine Steigungen im letzten Gang erklimmen möchte, sollte am besten ein Kettenrad mit 40 Zahnen montieren, das entspricht 16:40=1:2,50)

Unser Testgespann war mit 15:35=1:2,33 nach unseren Erfahrungen auf unterschiedlichen Strecken eine Idee zu lang übersetzt.

Das schwere Fahrzeug fiel im vierten Gang bei leichten Steigungen zu stark mit der Drehzahl ab und wir mußten häufig zurückschalten. Die dauernden Berg- und Talfahrten waren ein gutes Testgelände für verschiedene Zündungs- und Vergasereinstellungen. Unsere Bord-Stroboskoplampe kam des öfteren zum Einsatz und in Verbindung mit leichten Änderungen am Vergaser konnten wir die Auswirkungen extremer Früh- oder Spätzündung unter Belastung auf der Straße testen.

Wie bei früheren Probefahrten bestätigte sich die ungenaue Funktion des Fliehkraftreglers samt Unterbrecher. (Die Zündanlage regelt selten in allen Drehzahlbereichen die richtige Frühzündung nach ihrer vorgegebenen Verstellkurve. Hier liegen noch ungenutzte Kraftreserven des Motors verborgen. Ein Problem, das die meisten FalconeBesitzer Leistung und Material kostet.)

Am Ende der Langstreckenfahrt waren wir uns einig, eine computergesteuerte Zündanlage zu installieren.

Wieder ging ein Tag voller Erfahrungen und Eindrücke zu Ende und im Scheinwerferlicht gingen wir erneut auf die Suche nach einem trockenen Lagerplatz. Nach plötzlichem Ausfall der Beleuchtung und einer Vollbremsung entdeckten wir einen kleinen alten Sportplatz mit ausgedienter Spielerbaracke. Nachdem der ausgeglühte Sicherungskasten entfernt und die Kabel überbrückt waren, schoben wir das Vorderrad samt Scheinwerfer in die Tür und öffneten bei Standlicht Dosen und Rotwein.

Den ganzen Vormittag des nächsten Tages kämpften wir uns bei Gegenwind und Temperaturen um 0 Grad Celsius bergauf in Richtung Lausanne. Der 4. Gang hatte Winterschlaf und wir ärgerten uns ständig über die zu flache Endübersetzung. Zum Glück schien der Motor drehzahlfest zu sein, denn im 2. und 3. Gang ließen wir’s richtig krachen. Beim Tanken wurde wieder mal der Spritverbrauch ausgerechnet und das Motorenöl geprüft. Beide Messungen waren zufriedenstellend.

5,6 L Bleifrei-Benzin auf 100 km und 0,25 L Ölverbrauch auf 1000 km, wobei der tatsächliche Ölverbrauch bei ca. 0,10-0,15 L/1000 km liegen dürfte. Den Rest verloren wir durch das nun festgestellte Lunkerloch am Zylinderkopf!

Die Mittagspause im Tankstellenbistro wurde zu Fachgesprächen über Zündung, Übersetzung und Fahrverhalten genutzt. Letzteres wurde zunehmend unruhiger und das Kurvenfahren gefährlicher. Nach Kontrolle des Hinterrades wußten wir Bescheid. Fünf Speichen waren abgerissen und der Rest des Rades in Auflösung begriffen. Mit Bindedraht und Nachzentrieren versuchten wir zu retten, was zu retten war. Lange würde es allerdings nicht halten, das war uns klar. Die Serienspeichen waren einfach zu schwach für den Beiwagenbetrieb.

Gegen Abend wurde es immer kälter und wir erlebten unsere frostigste Nacht bei ca. 10 Grad minus im Schlafsack, unter großen Schweizer Eichen mit Blick auf den Genfer See.

Bei Sonnenaufgang krochen wir halb erfroren aus unseren Schlafsäcken und schauten fasziniert auf unser tapferes Falcone-Gespann. Schneeweiß glitzernd mit Reif überzogen stand es wie gemalt am Waldrand. Dreimal mußten wir per Kickstarter anfragen, bevor der Motor zum Leben erwachte. Schnell wie der Blitz stopften wir unsere Sachen ins Gespann, Erwin stieg ein und wir fuhren los, um möglichst schnell ein ordentliches Frühstück im Warmen zu ergattern. Bereits hier hätte mir der schwergängige Gaszug auffallen müssen. An der ersten Abzweigung auf die Hauptstraße wollte ich anhalten und die Handbremse ziehen. Denkste! Der Gaszug ging ebenfalls nur langsam zurück und die eilig betätigte Fußbremse brachte die Fuhre natürlich auch nicht zum Stehen. Es kam, wie es kommen mußte. Wir schlitterten mit aufheulendem Motor weit in die Hauptstraße hinein.

Als wir uns vom ersten Schreck erholt hatten, versuchten wir eine halbe Stunde verzweifelt, den Bremszug gangbar zu machen. Ohne Erfolg, der Hebel samt Zug war wie festgeschweißt. Nach einem warmen Café-au-lait mit Frühstuck fuhren wir mit ungutem Gefühl und nur mit der Fußbremse bewaffnet nach Basel. Nach Passieren der Grenze stiegen die Temperaturen geringfügig an und das Problem erledigte sich von selbst.

Kurzer Tankstop in Rheinfelden mit Öl-, Luftdruck- und Speichenkontrolle. Das Hinterrad war dem Ende nahe und machte uns ernste Sorgen. Einige Schrauben und Motorhaltebolzen waren lose, der Fußbremslichtschalter defekt. Die letzten Autobahnkilometer bis nach Hause wollten wir zum Vollgastest nutzen. Erwin stieg auf und eröffnete die Materialschlacht. Bei 90 km/h Dauergeschwin­digkeit lief der Motor durch die flache Übersetzung noch einigermaßen ruhig. Nach ca. 50 km steigerten wir uns bis zum Letzten. Auf der schnurgeraden Bahn ohne nennenswerten Gegenwind lief die Guzzi brav 100-105 km/h Dauergeschwindigkeit. Beim Fahrerwechsel in Karlsruhe hatten wir bereits alle Skrupel verloren und quälten den Motor mit Vollgas weiter. Als es Nacht wurde, erreichten wir den Rastplatz „Ob der Tauber“. Beim warmen Imbiss erzählten wir begeistert vom Durchzug und der Drehzahlfestigkeit des Falcone-Motors. Kurz zuvor waren wir mit 93 km/h den dreispurigen Autobahnberg zur Raststätte heraufgedonnert. Mit ca. 25 PS und 470 kg Gesamtgewicht bestimmt eine tolle Leistung. Die letzten 60 km bis nach Hause kamen uns im Dunkeln besonders schnell vor. 100 km/h Endgeschwindigkeit sind ausreichend schnell für die klassische Falcone-Erscheinung. Nach Abschluß der Testfahrt wurde der Motor teilweise zerlegt und vermessen.

Sämtliche Innereien unseres Versuchsmotors sahen trotz der hohen Belastung sehr gut aus und der Verschleiß war kaum meßbar. Lediglich die Ventilsitze hatten sich um 0,2 mm verbreitert, was angesichts der Dreherei nach eher wenig erscheint.

Wir waren rundum zufrieden und setzten Kopf und Zylinder wieder zusammen. Freie Fahrt zum nächsten Test!

Benzinverbrauch: 5,6 L/100 km im Durchschnitt

Ölverbrauch: 0,2 L/1000 km im Durchschnitt

Maßliste/Daten

Einbaumaß: 0 km Istmaß: 3000 kmKompression, warm, Vollgas 9,8 bar 10,1 bar

Zylinder: 88,920 mm 88,925 mm

Kolben: 88,850 mm 88,850 mm

Kolbenbolzen: 22,000 mm 22,000 mm

Pleuelbuchse: 22,010 mm 22,015 mm

Einlaß-Ventilführung: 8,010 mm 8,015 mm

Einlaß-Ventil: 7,980 mm 7,975 mm

Auslaß-Ventilführung: 8,010 mm 8,015 mm

Auslaß-Ventil: 7,950 mm 7,950 mm

Ventilsitz Einlaß: 1,500 mm 1,600 mm

Ventilsitz Auslaß: 1,600 mm 1,800 mm

Beste Grüße: Jürgen Lamprecht